Die Corona-Pandemie hat den Stellenwert der Homeoffice-Arbeit massiv aufgewertet. Immer mehr Arbeitnehmer, aber auch Arbeitgeber, sind gegenüber einer Erwerbstätigkeit ausserhalb der Arbeitsplätze der Unternehmen nicht mehr abgeneigt, im Gegenteil. Dies gilt selbst in grenzüberschreitenden Konstellationen, z.B. wenn der arbeitsvertragliche Arbeitsplatz und das Homeoffice in unterschiedlichen Ländern liegen. Bekanntestes Beispiel hierfür ist die Heimarbeit von Grenzgängern.
Liegt das Homeoffice im Ausland, haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer jeweils integriert relevante Implikationen bezüglich Einkommensbesteuerung, Unternehmenssteuern (eventuelle Begründung einer unternehmenssteuerpflichtigen Betriebstätte), Sozialversicherungen, Arbeitsrecht und eventuell Ausländerrecht zu berücksichtigen. Etliche dieser Determinanten stehen derzeit zumindest in Teilbereichen in Überprüfung, da sich die jetzigen Bestimmungen mittlerweile als unzeitgemäss entpuppen und Normanpassungen verlangen.
Eine bedeutende aktuelle Novität in solch grenzüberschreitenden Sachverhalten betrifft die Sozialversicherungsunterstellung bei Telearbeit im EU/EFTA-Raum. Diesbezügliche Zuständigkeiten sind seit 2005 über die Vorgaben der EU-Direktiven Nr. 883/2004 sowie Nr. 987/2009 geregelt. Diese Verordnungen bestimmen grundsätzlich, dass in zwei oder mehreren Ländern Erwerbstätige (mit wenigen Ausnahmen) nur in einem Land sozialversichert sein können. Um die Sozialversicherungszuständigkeit eines Staates zu determinieren, wurden für die verschiedenen Erwerbsformen (z.B. Unselbständige, Selbständige, Beamte, etc.) entsprechende Zuordnungsregeln festgelegt. Die bekannteste dieser Bestimmungen – die sog. 25%-Regelung – betrifft unselbständig Erwerbende, die in zwei unterschiedlichen Staaten arbeiten. Diese Angestellten bzw. ihre Arbeitgeber haben die Sozialversicherungspflichten im Wohnsitzlande zu erfüllen, wenn die Angestellten dort mehr als 25% ihrer gesamten Arbeitspensen physisch ausüben. Diese strikten Vorgaben wurden indes anlässlich der Covid-Pandemie aufgrund der damals verpflichtenden oder empfohlenen Telearbeit suspendiert, Grenzgänger konnten zum Beispiel auch über 25% oder gar unlimitiert zuhause arbeiten, ohne dass sich die Sozialversicherungsunterstellung ins Wohnsitzland kehrte. Mit dem Abschwellen der Pandemie wurde schliesslich beschlossen, diese Sonderbestimmungen auf Mitte 2023 auslaufen zu lassen.
Seit dem 1. Juli 2023 greift daher die 25%-Regelung wieder, obschon zwischenzeitlich breiter Konsens darüber bestand, dass die Norm nicht mehr zu den geänderten Bedürfnissen der modernen Arbeitswelt passt. Allerdings lassen sich die entsprechenden Gesetze und Verordnungen nicht im Schnellverfahren ändern. Um einigermassen am Ball der Zeit zu bleiben und stabile Neuregelungen ohne besondere Eile beraten zu können, wurden nunmehr vorübergehende Regeländerungen auschliesslich bezüglich der grenzüberschreitenden Telearbeit beschlossen.
Eine ad-hoc-Expertengruppe formulierte zuhanden der Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit der Europäischen Union eine multinationale „Rahmenvereinbarung über die Anwendung von Art 16 (1) der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 für Fälle von gewöhnlicher grenzüberschreitender Telearbeit“ (englisch: („Multilateral Framework Agreement“, MFA) mit Inkrafttreten am 1. Juli 2023 und einer vorläufigen Gültigkeitsdauer von fünf Jahren.
Der Kernpunkt der Rahmenvereinbarung liegt darin, dass bei Telearbeit eine Ausweitung der 25%- Wesentlichkeitsgrenze für eine Sozialversicherungsunterstellung am Wohnort auf einen Anteil von maximal 50% ermöglicht wird. Die Rahmenvereinbarung ist für die einzelnen EU/EFTA-Staaten nicht zwingend, sondern muss unterzeichnet werden. Dies haben bis heute (aktualisiert am 04.09.23) neben der Schweiz die Länder Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Kroatien, Liechtenstein, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Slowakei, Slowenien, Spanien und Tschechien getan, weitere dürften folgen.
Die Neuregelung und deren Praxis sei anhand des Beispiels eines EU-wohnhaften, in der Schweiz angestellten Erwerbstätigen dargelegt. Ein Angestellter kann in den oben erwähnten Ländern, wo er Wohnsitz hält, neu bis zu 49,9% seiner Gesamtarbeitszeit im Homeoffice tätig sein, ohne die schweizerische Sozialversicherungsunterstellung (AHV, IV, BVG, ALV, gesetzliche Krankenversicherung etc.) zu verlieren. Voraussetzung dazu ist, dass er nur für schweizerische Arbeitgeber angestellt ist und am ausländischen Wohnsitz Telearbeit verrichtet. Telearbeit ist als eine Tätigkeit definiert, die ortsunabhängig erbracht werden kann und in den Räumlichkeiten des Arbeitgebers oder an seinem Sitz ausgeübt werden könnte. Überdies hat sich die Telearbeit auf Informationstechnologie, die eine Verbindung zur Arbeitsumgebung des Arbeitgebers oder von Kunden ermöglicht, zu stutzen. Manuelle Verrichtungen sind daher von der Flexibilisierung ausgeschlossen.
Die Anwendung der Rahmenvereinbarung, welche Wohnsitz-Arbeitspensen zwischen 25% und 49,9% betrifft, ist nur auf Antrag möglich und bedingt das Einverständnis beider Parteien. Die Gesuche erfolgen im Staate des Sitzes des Arbeitgebers, in der Schweiz also über die Internet-Plattform „Applicable Legislation Portal Switzerland“ (ALPS) bei der zuständigen kantonalen Sozialversicherungsanstalt. Sofern genehmigt, münden sie alsdann in einer A1-Bescheinigung mit einer (verlängerbaren) dreijährigen Gültigkeitsdauer, dessen Aushändigung automatisch ans Wohnsitzland gemeldet wird. Erwähnenswert ist dabei, dass für bereits am Arbeitsort Sozialversicherte aktuell keine besondere Eile vonnöten wird: Anträge, die bis Mitte 2024 eintreffen, können rückwirkend per 1. Juli 2023 ausgestellt werden. Ansonsten können A1-Gesuche prinzipiell nur für künftige Zeiträume gestellt werden. Dies gilt auch für grenzüberschreitende Telearbeit bis 25% der Gesamtarbeitszeit, die weiterhin nach den ordentlichen Regeln der 883/2004-Verordnung behandelt werden (A1-Antrag im Wohnsitzstaat).
Würdigung der Neuregelung: Wenn auch die gesamte EU-Direktive 883/2004 eine umgehende Modernisierung benötigt (woran EU-seitig gearbeitet wird), ist die Telearbeit-Novität als temporäre Lösung zu begrüssen. Bei schweizerischen Arbeitgebern beschäftigte Grenzgänger können nunmehr doppelt so lange am Wohnsitz arbeiten als in den Zeiten vor der Covid-Pandemie und trotzdem in der komfortablen schweizerischen sozialen Sicherung verbleiben, was auch den helvetischen Arbeitgebern, die üblicherweise die Abrechnung ausländischer Sozialversicherungsbeiträge scheuen, entgegenkommt. Vorteilhaft ist die Norm auch für Angestellte, die ausserhalb der Grenzzonen oder in ferneren EU/EFTA-Ländern wohnen und in der Schweiz arbeiten: Sie gewinnen etwas mehr Gestaltungspielraum.
Bei Berücksichtigung der Homeoffice-Tage, Feiertage und Ferien können diese Personen nun bei CH-Sozialversicherung gar überwiegend im EU/EFTA-Ausland weilen. Bei grenzüberschreitender Telearbeit sind indes stets die steuerlichen Implikationen zu vergegenwärtigen: Je nach Wohnsitz und Ausgestaltung der Doppelbesteuerungsabkommen ergeben sich durch das verlängerte Homeoffice eventuell höhere (zuweilen aber auch tiefere) Steuerbelastungen, die im Einzelfall stets in die Kalküle der Arbeitnehmer einfliessen müssen.
Die Neuregelung betrifft nur die erwähnten Telearbeiter. Unverändert bleiben die Koordinierungsregelungen zur Sozialversicherungsunterstellung z.B. für Nicht-Telearbeiter, Telearbeiter in Ländern, welche die Rahmenvereinbarung nicht unterzeichnen werden, Selbständige, Mehrfachtätige (EU), in unterschiedlichen EU-Ländern angestellten Personen oder auch für Drittstaatsangehörige im Verhältnis CH-EU. Es darf erwartet werden, dass die überfällige Anpassung der EU-Direktiven auch für etliche dieser Fälle Verbesserungen bzw. Flexibilisierungen bringen wird.